Entropie 12 (AT) ist ein Experimentierfeld in dem 12 Künstlerinnen über 12 Monate einen neuen sozialen Raum entwickeln. Wir werden Bilder des Aufbruchs in eine andere Zukunft produzieren. Über das Jahr 2019 werden wir einen konkreten, sozialen Raum herstellen und in performativen Aktionen inszenieren. Zwölf Künstlerinnen soll dann ein Grundeinkommen zur Verfügung stehen, denn um den von uns angestrebten experimentellen Raum herzustellen, brauchen wir Freiheiten.
Entropie 12 (AT) ist ein konkreter anderer Raum und eine Bewegung, die politische Forderungen, welche sich aus dem Experiment des gelebten Raums ergeben, durchsetzt.
I am beautiful, I am good
Seit Dezember liegt die Barkasse Archipel Lore an den Archipel Pontons auf dem Veringkanal in Wilhelmsburg. Ich bin oft auf dem Schiff. An einem dieser schönen Wintertage mit Minusgraden und Sonnenschein kam ich nach einem langen Tag Arbeit aufs Boot. Ich hatte Hunger. Und eine Verabredung. Und keine Lust zu kochen. Auf den Pontons vor dem Boot begrüßten mich drei freundliche Menschen. Sie saßen ohne Jacken vor einem kleinen Grill auf dem sich Fisch befand. Es war windstill. Beim Betreten des Archipels luden sie mich sofort ein, zeigten mir ihre selbstgemachten Salate und das Brot, das ihre Mutter am Morgen gebacken hatte. Trotz der eisigen Temperaturen öffnete auch ich, als ich mich auf den Boden setzte, meine Jacke. In der Sonne war es warm. Die drei lachten viel. Wir interessierten uns füreinander, fragten uns aber nicht aus. Wir aßen. Ich lobte die Köstlichkeiten. Ich konnte einen Espresso zum Nachtisch anbieten. Sie boten mir zollfreie Marlboros, ich ihnen aus Indonesien mitgebrachte Kretek Zigaretten. Wir rauchten. Die drei kommen ursprünglich aus Syrien. Zwei sind noch recht jung. Sie gaben mir Einblicke in ihr sehr bewegtes Leben. Vor allem Jomaas Erfahrungen führten meine Vorstellungskraft an ihre Grenzen – Wie muss es sein als Freiheitskämpfer in Syrien? Wie fühlt sich dein Rücken an, der in einem kleinen Dorf vor der türkischen Grenze mit Titanschrauben zusammengeflickt wurde? Was war das für ein Gefühl von dem besten Freund nach zwei Tagen unter den Trümmern eines
zerstörten Hauses geborgen zu werden? Wie bist du mit diesem gebrochenen Rücken aus dem Süden Syriens in den Norden gelangt? Wie fühlt es sich an jetzt marginalisiert und stigmatisiert in Containern zu wohnen, in einem Stadtviertel, in dem sonst fast alle in Steinhäusern leben?
Ein anderer Raum
Wir wollen ein anderes gemeinschaftliches Leben erproben. Ein Leben, welches sich so weit wie möglich von den Zwängen unserer momentanen gesellschaftlichen Ordnung löst. Wir schaffen also einen Raum in dem ein freier Austausch möglich ist. Ein Raum, in dem wir bei Null anfangen können uns zu überlegen, was wir zusammen machen möchten und wie wir dies tun. Natürlich können wir nicht wirklich jetzt gleich bei Null anfangen. Wir alle tragen die vorherrschenden gesellschaftlichen Organisationsformen in uns, nämlich, die Repräsentative Demokratie und die neoliberale Weltordnung. Diese üben Druck auf jeden von uns aus. Sie bestimmen unseren Alltag, unser Handeln, wie wir uns mit anderen austauschen, wie wir uns und andere wahrnehmen, wie wir uns fühlen – sie führen zu Vereinzelungen, Depressionen, Angststörungen, Ausbeutung, und ganz direkt zum Tod von Menschen.
Wir müssen uns zunächst von dem Druck der vorherrschenden gesellschaftlichen Ordnung lösen. Wenn wir uns von diesem Druck gelöst haben, können wir zusammen eine Welt bauen, in der wir uns wirklich wohl fühlen, in der wir wirklich alle zusammen Entscheidungen treffen können über Dinge die uns alle etwas angehen.
Den Prozess des Zu-null-kommens möchten wir in einem Raum ausprobieren. Es ist ein physischer Raum, ein Raum, der so gestaltet ist, dass er eine Botschaft sendet. Diese Botschaft ist eine Einladung an alle, Teil dieses Versuchs zu werden. Die Botschaft ist die einer Welt, in der wir alle über alles entscheiden was uns betrifft. Ganz ernsthaft, nicht so wie es jetzt ist: gelogen.
Um den experimentellen Raum Entropie 12 (AT) herstellen zu können brauchen wir zunächst finanzielle Freiheiten. Wenn wir einem anderen Job nachgehen müssen um unsere Versorgung ausreichend zu gewährleisten, können wir nicht bei Null anfangen und diesen Raum herstellen. Wir werden nie zu diesem Nullpunkt kommen, weil wir weiterhin eingebunden sind in eine Organisationsform, welche in uns Werte und Handlungsweisen einschreibt. Wir brauchen ein Grundeinkommen um praktisch die Zeit zu haben, gemeinsam einen anderen Raum zu bauen.
IT’S IMPOSSIBLE TO LEARN TO PLOW BY READING BOOKS
Konkretes
Heterotopie2
Jede Gruppe die in der Gesellschaft Einfluss nehmen will, brauch einen physischen Ort, einen sozialen Raum. Für unser Experiment möchten wir hier in Hamburg dezentral Räume einnehmen. Das machen wir auch schon.
Seit drei Jahren gibt es mit Das Archipel eine Insel auf Hamburgs Gewässern, die den Versuch macht, ein anderer gemeinschaftlicher Raum zu sein. Schwimmende Inseln bieten ideale Projektionsflächen für eine andere Zukunft, weil sie losgelöst vom Land sind - es sind andere Räume. Das Archipel ist commons, es gehört uns allen. Alle die sich angesprochen fühlen, können entscheiden was in dem Raum passiert und wie etwas passiert. Die Insel ist mobil und hat sich in den vergangenen Jahren mit unterschiedlichen Teilen der Stadt auseinandergesetzt. Parallel zum physischen Ort ist ein Kollektiv gewachsen. Zu der Insel sind weitere Orte hinzugekommen, welche wir als offenes Kollektiv einnehmen. Auf dem Wasser besteht Das Archipel mittlerweile aus drei Inseln. Vier modularen Pontons, einer Schute mit Innenräumen und einer Barkasse, mit der wir die nicht motorisierten schwimmenden Anlagen schleppen. Die drei mobilen Inseln des Archipels haben als primären Liegeplatz den Veringkanal in Wilhelmsburg.
Wer ist wir? (Wir sind wir alle)
Wer die 12 Künstlerinnen sind, die schlussendlich das Entropie 12 (AT) Kollektiv bilden steht noch nicht fest. Unsere Gruppe ist bislang lose. Klar ist, dass wir einen offenen Kunstbegriff benutzen. Das Kollektiv muss so divers wie möglich sein, um möglichste unterschiedliche Menschen anzusprechen. Mögliche Künstlerinnen sind u.a.: Jomaa, aus der benachbarten Notunterkunft, der Hafenarbeiter, der auf einen Kaffee auf der Barkasse Lore vorbeikommt und Baupläne für ein neues Floß zu diskutiert, usw. Dokumentarfilmer, Theaterregisseure, Kostümbildnerinnen...
Raum
Das Archipel arbeitet bereits seit drei Jahren an der Vision eines anderen Raums. Um diesen Raum zu erweitern werden wir konkret ab Januar 2019 in der Bootsbauwerkstatt der benachbarten Honigfabrik beginnen, weitere schwimmende Inseln zu bauen. Entropie 12 (AT) besitzt Produktionsmittel.
Zunächst bauen wir ein Kantinen- und Residenzfloß. Gemeinsam mit einigen Bewohnerinnen der am Veringkanal gelegenen Notunterkunft möchten wir auf dem Wasser täglich eine Kantine betreiben. Kantinen sind Orte, an denen um die Mittagszeit Menschen zusammenkommen um günstig zu Speisen. Eine öffentliche Kantine ist Raum, in dem ganz unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen. Im Sommer 2018 möchten wir dieses Konzept auf dem Archipel bereits testen.
Das Kantinenfloß wird mit zwei kleinen Schlafräumen auch Unterkunft für Residenzgäste. Wir möchten internationale Künstlerinnen einladen, welche zu den Themen Selbstorganisation, alternativen Nutzungen von Wasserflächen, Architektur auf dem Wasser, alternativen Produktionsweisen, commons, usw. arbeiten. Über unsere internationalen Projekte konnten wir Menschen kennenlernen, die ähnlich wie wir arbeiten.
Im Laufe des Jahres 2019 werden wir weitere Flöße bauen. Form und Inhalt stehen zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest. Wir erträumen uns, dass bald viele Menschen auf dem Kanal wohnen und arbeiten.
Das Projekt ist niemals abgeschlossen.
DIE ERDE WIRD DER SCHÖNSTE PLATZ IM ALL
Vom Raum zur Bewegung / Wünsche
Wir sind viele. Und wir sind stark. Und wir möchten gemeinsam herausfinden, wie wir zusammen leben möchten. Und wir möchten Bedingungen für eine Welt schaffen in der wir alle über unsere gemeinsame Umgebung entscheiden können. Das ist ein Prozess, das geht nicht von jetzt auf gleich. Dieser Prozess hat schon angefangen. So viele von uns machen Filme, Bilder, Musik, Konzerte, Lesungen, Performances, Theater, kochen, erziehen Kinder .... nur sind wir viel zu oft vereinzelnd. Natürlich kennen wir uns und mögen uns. Aber wir werden von denen die jetzt in den machtvollen Positionen sind meist nicht gesehen, nicht gehört, marginalisiert und belächelt.
Also müssen wir Bilder inszenieren, die alle Menschen berühren, auch die, die jetzt formelle Macht haben. Und wir müssen mit denen, die jetzt Entscheidungen treffen, die uns alle was angehen, reden. Wir werden erst handeln, erst einen Raum bauen und ein Bild inszenieren, dann stellen wir Forderungen. Von unser Heterotopie aus haben wir eine machtvolle Position. Wir haben schon etwas geschaffen. Wir haben im Kleinen schon den Beweis, dass eine andere Welt möglich ist. Wenn wir dann dort hingen, wo die formelle Macht ist, und reden, dann wollen wir so ehrlich sein wie wir können und sagen was wir fordern. Wir können konkrete Kritiken am derzeitigen System auch äußern, müssen das aber gar nicht. Wir haben hier einen konkreten Vorschlag, das funktioniert, das können wir jetzt überall so machen.
Wir, die wir sowieso schon an einer anderen Welt arbeiten, kommen zusammen. Und wir werden zusammen Bilder produzieren die alle etwas angehen, um dann den Möglichkeitsraum den wir uns derzeit erarbeiten auf wirklich alle auszuweiten. Zunächst brauchen wir Räume in denen wir uns frei und zwanglos austauschen können. Unser Raum muss wachsen bis alle Platz finden.
Die Bilder unseres Experiments sind so pluralistisch wie wir alle. Aber sie berichten von dem Selben. Es sind keine Bilder der Frustration und des Hasses, sondern Bilder des Austauschs. Es sind Bilder eines Neubeginns, etwas Großem. Bilder von Selbstorganisation, von einer neuen Unordnung, von neuen Möglichkeiten. Diese Bilder sind auch gelebte Realitäten. Es sind Leben von Menschen, die zusammen für ein Ziel kämpfen. Wir werden diese Bilder inszenieren. Über diese theatrale Auseinandersetzung mit neu geschaffenen Lebensrealitäten kommunizieren wir gezielt nach außen. So nehmen wir Einfluss und können etwas verändern. Wir möchten so kommunizieren und so leben, dass sich alle eingeladen fühlen mitzumachen. Wir müssen alle sein, sonst können wir nichts systemisches verändern. Wir möchten alle über alles entscheiden was uns alle betrifft! Und wir entscheiden selbst wie wir uns organisieren, wie wir miteinander leben, wie, wo, wann und warum wir arbeiten. Der Anfang ist das Experiment im Kleinen. Eine Gruppe von 12 baut über 12 Monate einen anderen Raum. Wir werden mit unserem Leben Bilder produziert, eine Bewegung gründet, uns Schritt für Schritt multiplizieren und andocken, bis unser Raum groß genug ist für alle. Als eine Bewegung werden wir Forderungen durchsetzen.
YOURS, IN CONCRETE FRIENDSHIP
Es ist Sommer 2020. In der Kantine koche ich gerade mit meinem guten Freund Nick Königsberger Klopse. Jomaas Mutter backt einen Kuchen, das tut sie fast jeden Tag. Wir unterhalten uns nett, wir lachen uns an, wir fragen uns wie es zu dieser Welt auf dem Wasser kam:
Ich bin mir sicher, dass es keinen entscheidenen Moment gab. Fast 500 Tage leben und arbeiten wir jetzt hier zusammen. Es gab so viele Situationen, sie alle waren entscheidend. Es ist so schwer zu sagen was wichtiger war: Dieses intensive Gespräch mit Phillip, der bis vor einiger Zeit noch obdachlos war, in dem wir feststellten, dass sich die Beziehungen zu unseren Vätern sehr ähneln. Oder die Situation mit dem Oberbürgermeister der Stadt Hamburg, der uns zum Abendessen ins ‚Landhaus Scherrer’ einlud. Die Einladung lehnten wir nämlich ab und er sah ein, dass er zu uns in die Kantine kommen muss. Er fühlte sich wohl und staunte. Seinen Posten gab er dann nicht nur als Mensch auf, sondern setzte seine Funktion generell ab. Er und seine Arbeitskolleginnen blieben fortan ihrer bisherigen Arbeit fern und engagierten sich auf so tolle Weisen für die Menschen dieser Stadt.
Die Entropie 12 (AT) Inszenierung lief jetzt, wie das gesamte Projekt, seit 500 Tagen täglich. Viele Theaterschaffende aus der ganzen Welt hatten sich dem Stück mittlerweile angenommen. Das mehrtägige Spektakel auf der schwimmenden Insel, die durch den Hafen alle und Kanäle Hamburgs tourte, ging als Video im Internet viral. Das war ein Meilenstein. Dieses Theater hat unser aller Leben verändert. Und es gibt noch so viel zu tun.
1. Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik: Die Entropie im Universum geht gegen unendlich. Prozesse bei denen Entropie entsteht, werden als irreversibel bezeichnet. Entropie wird umgangssprachlich als Maß der Unordnung umschrieben. Menschen sprechen ebenfalls von Möglichkeiten, welche mit steigender Entropie gegen unendlich gehen. ↩
2. Bordelle und Kolonien sind zwei extreme Typen der Heterotopie, und wenn man daran denkt, daß das Schiff ein schaukelndes Stück Raum ist, ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist und der, von Hafen zu Hafen, von Ladung zu Ladung, von Bordell zu Bordell, bis zu den Kolonien suchen fährt, was sie an Kostbarstem in ihren Gärten bergen, dann versteht man, warum das Schiff für unsere Zivilisation […] das größte Imaginationsarsenal ist. Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin. In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter (M. Foucault, Andere Räume)
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